Zikkurat: Von der Tempelterrasse zum Stufenturm

Zikkurat: Von der Tempelterrasse zum Stufenturm
Zikkurat: Von der Tempelterrasse zum Stufenturm
 
Eine der erstaunlichsten Leistungen babylonischer Baukunst ist die Zikkurat, der massige und von einem Tempel auf der Spitze gekrönte Turm aus aufeinander gelegten riesigen Ziegelmassiven, den man mithilfe einer dreigeteilten Treppenanlage ersteigen konnte. Diese Grundidee - Tempel auf Terrasse - geht in Babylonien auf eine uralte Bauform zurück. Bereits in der frühesten Besiedlungsphase, in der Obeid-Zeit, finden wir in Eridu oder Tell Uker Tempel auf Plattformen, die freilich eine Höhe von 2 bis 3 m selten übersteigen. Eine Ausnahme ist die bisweilen auch als »Anu-Zikkurat« bezeichnete Terrasse des Anu-Bezirkes in Uruk, die wohl bereits in ihren Anfängen 5 m über ihre Umgebung hinausragte und in der späten Uruk-Zeit eine Höhe von 11 m erreichte. Man hat vermutet, dass diese frühen Terrassen ursprünglich aus Schutzterrassen entstanden, auf die sich die Siedler bei Hochwasser retteten.
 
Die besondere Form der Zikkurat entstand aber erst kurz vor 2000 v. Chr. unter Urnammu, dem ersten Herrscher der 3. Dynastie von Ur, der nicht nur das Hauptheiligtum seiner Hauptstadt damit ausstattete, sondern ebenso diejenigen der wichtigsten anderen Städte seines Reichs. Die Zikkurat galt von dieser Zeit an so sehr als Wahrzeichen bedeutender Heiligtümer, dass nicht nur die Bauten Urnammus immer wieder ausgebessert und - teilweise bis in die Seleukiden-Zeit im 3. Jahrhundert v. Chr. - mit neuen schützenden Schalen versehen wurden, sondern dass auch Städte, die erst später zu Größe und Macht gelangten, sich mit einer Zikkurat schmückten. Sogar bei Neugründungen von Residenzstädten im späteren 2. Jahrtausend wie Dur-Kurigalzu, Kar-Tukulti-Ninurta oder Dur-Untasch wurden Zikkurats wie selbstverständlich in die Planung einbezogen. Der überwältigende Eindruck dieser Bauten ist uns am eindrücklichsten im alttestamentlichen Bild des »Turms von Babel« erhalten, das auf die Zikkurat von Babylon zurückgeht.
 
Bei der Errichtung einer Zikkurat stand die Lösung zweier technischer Probleme im Vordergrund. Zum einen mussten die Seitenlänge und die Höhe der ersten Stufe der Zikkurat so aufeinander abgestimmt werden, dass die zwei gegenläufigen, an die Seite dieser untersten Stufe angelehnten Treppen sich in der Höhe dieser Stufe trafen und auch die allein stehende Mitteltreppe auf diesen Punkt hinführte. Das erforderte genaue Berechnungen, die die Ziegelgröße, die Höhe der Mörtelfugen und die Steigung der Treppen zu berücksichtigen hatten. Zum anderen waren gewaltige Druckkräfte unter Kontrolle zu bringen. Denn die Massen von luftgetrockneten Ziegeln entwickelten durch ihr Gewicht im Zentrum der Zikkurat einen Druck, der die unteren Teile des Massivs auseinander zu treiben drohte. Dieser Gefahr begegnete man dadurch, dass man um den aus luftgetrockneten Ziegeln errichteten Kern einen dicken Mantel aus gebrannten Ziegeln legte, die zudem in Asphaltmörtel verlegt waren. Diese Bauweise gelangte am Ursprungsort Ur zum Einsatz, aber auch an der sehr viel späteren Zikkurat des chaldäischen Babylon.
 
Für das Brennen von Ziegeln benötigte man große Mengen von Brennmaterial, das in Babylonien seit jeher knapp gewesen war. Daher wurde eine Methode entwickelt, die die Errichtung des gesamten Massivs aus ungebrannten Ziegeln ermöglichte; gebrannte Ziegel wurden dann nur für besonders gefährdete Stellen verwendet, z. B. für Wasserableitungsschächte. Jeweils für ein Massiv legte man ein Paket aus fünf oder sechs Ziegelschichten aufeinander, darüber wurden geflochtene Schilfmatten gelegt, die der untersten Schicht des nächsten Pakets Halt gaben und diese am Auseinanderrutschen hinderten. In gewissen Abständen wurden zudem quer durch das Massiv verlaufende Lüftungsschächte ausgespart, um die Restfeuchtigkeit aus dem Inneren zu entfernen und damit die Verformbarkeit der Ziegel zu verringern. Schließlich wurden in manchen solcher Schächte armdicke Schilftaue verlegt, die zusätzliche Anker bildeten.
 
Normalerweise setzte man zwei dieser Stufen aufeinander, sodass der gesamte Turm einschließlich des oben aufstehenden Tempels eine Gesamthöhe von 25 m erreichen konnte. Die Zahl von sieben Stufen, die Herodot für die Zikkurat von Babylon angibt, ist deshalb vielleicht doch als Übertreibung zu werten; zumindest wäre dies eine Besonderheit gewesen, wie sie sich der das Übermaß liebende Herrscher Nebukadnezar II. im 6. Jahrhundert für Babylon ausgedacht haben könnte. Von den verschiedenen Farben der einzelnen Stufen oder ihrer verschiedenartigen Musik, die Herodot schildert, ist allerdings nichts mehr erhalten.
 
Dank ihrer Ummantelung mit Backsteinen hat sich die Zikkurat des Nanna, des Stadtgottes von Ur, am besten erhalten, wenn auch die späteren Um- und Überbauten die Zikkurat von Urnammu kaum noch erkennen lassen. Auf einer Grundfläche von 65 x 43 m erhob sich in der Zeit um 2000 v. Chr. eine erste Stufe, deren Oberkante bei 11 m über dem Baugrund lag. Die Zikkurat befand sich in einem 120 x 90 m großen Hof, der auf allen Seiten durch Raumtrakte eingefasst war. Ein kleinerer Hof von 42 x 65 m bildete mit seinem von starken Tortürmen flankierten Eingang den eigentlichen Zugang, der direkt zu dem ebenfalls hervorgehobenen Tor des Zikkurathofs führte. Südwestlich der Zikkurat - außerhalb ihres Hofs, aber noch im Zentralbereich - fanden sich die fast quadratische Anlage des Giparku, der Wohn- und Amtsräume der obersten Priesterin des Nanna, und ein weiteres Gebäude, das durch seinen Namen Ganunmah (»die große Scheune«) seine Funktion als Schatzhaus zu erkennen gibt. Etwas weiter entfernt stand das Gebäude, das durch Gründungsinschrift als »Palast des Schulgi«, des Sohnes des Urnammu, ausgewiesen ist. Innerhalb des von einer Mauer umgebenen Zentralbereichs finden wir also in unmittelbarer Nähe die höchsten Institutionen des Staates vereint: den Zentraltempel mit der höchsten religiösen Autorität, den Königspalast und den Staatsschatz.
 
Auch in Uruk lag die Zikkurat innerhalb einer Umschließungsmauer. Allerdings hatte der Umgang auf der Rückseite sowie rechts und links der Zikkurat nur eine Breite von rund 10 m, während vor dem Turm ein Platz von 90 x 70 m freigelassen war - genug Raum, um das gewaltige Bauwerk voll erfassen zu können. Wie in Ur handelte es sich bei diesem Hof aber noch nicht um den für die kultischen Abläufe nötigen Rahmen; hierzu war offenbar mindestens ein weiterer Hof vorhanden, über den der eigentliche Zugang erfolgte. Dieser weitere Hof lag jedoch nicht wie in Ur mit dem Zikkurathof auf einer gedanklichen Achse, sondern von diesem aus gesehen im Südosten. Wegen des schlechten Erhaltungszustands ist allerdings nur noch erkennbar, dass die Durchgänge zum Zikkurathof wie in Ur durch Türme hervorgehoben waren. Das monumentale Haupttor zum gesamten Komplex fiel später vollständig einer Regenrinne zum Opfer. Dem schlechten Erhaltungszustand ist es auch zuzuschreiben, dass wir wenig über die weitere Umgebung aussagen können. Insbesondere wissen wir nicht, ob sich in der Nähe der Zikkurat ähnlich wie in Ur ein Wohngebäude der Oberpriester der Inanna oder andere offizielle Bauten befanden. Dafür käme vor allem das Gelände im Nordosten infrage, wo Mauerfortsätze auf eine Erweiterung deuten; im Südosten und im Nordwesten des Geländes ist dagegen genug erhalten, um dort ausgedehnte Hofanlagen rekonstruieren zu können. Dass sich mit diesem Befund die Gesamtanlage von Uruk sogar als noch ausgedehnter als die von Ur erweist, steht nur scheinbar im Widerspruch dazu, dass Uruk in der Zeit der 3. Dynastie von Ur eine bloß untergeordnete politische Rolle spielte: Ausschlaggebend dürfte vielmehr gewesen sein, dass nicht nur Urnammu, der Gründer dieser Dynastie, aus Uruk stammte, sondern dass die Familie ihre Herkunft auf die inzwischen mythischen Könige Lugalbanda und Gilgamesch von Uruk zurückführte.
 
Prof. Dr. Hans J. Nissen

Universal-Lexikon. 2012.

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